Die “relative Mehrheitswahl” bezeichnet das Verfahren, in dem die Wähler nur für eine Option stimmen dürfen, wobei die mit den meisten Stimmen gewinnt. Die Gewinner haben dabei häufig weniger als die Hälfte der Stimmen, weswegen der Begriff “Mehrheitswahl” irreführend ist.

Bei einem Workshop zum Thema Wahlverfahren, im Jahr 2010, kamen die teilnehmenden Experten auf die Idee eine Abstimmung darüber abzuhalten welches Wahlverfahren das beste sei (Lasier 2011). Der Einfachheit halber wurde die Abstimmung als Zustimmungswahl durchgeführt. Jeder konnte also für beliebig viele Verfahren stimmen. Deutlicher Sieger war die Zustimmungswahl. Die relative Mehrheitswahl hingegen erhielt null Stimmen.

Die Relativwahl ist das schlechteste Wahlsysteme - nach nahezu allen erdenklichen Kriterien. Entsprechend wird es auch in Deutschland eher selten verwendet. Viel häufiger ist die Mehrheitswahl mit Stichwahl - das zweit schlechteste. Trotzdem gibt es vielerlei Bereiche in denen sie weiterhin auftaucht.

Probleme

Die größte Minderheit gewinnt

Wenn alle Wähler ehrlich abstimmen verteilen sich die Stimmen auf die Kandidaten. Meist gewinnt dabei ein Kandidat mit weniger als der Hälfte der Stimmen. Selbst wenn also eine Mehrheit der Wähler gegen diesen Kandidaten ist kann dieser trotzdem gewinnen. Es gewinnt eben keine Mehrheit, sondern nur die größte Minderheit.

Spoilereffekt

Das wird deutlich wenn zwei Kandidaten antreten die ein ähnliches Programm vertreten. Bei nur zwei Kandidaten ist es kein Problem. Wenn A gegen B antritt und mit 60 % gegen 40 % gewinnt, dann ist das Ergebnis klar. Wenn nun aber ein weiter Kandidat A’ antritt sind die A-Wähler gezwungen sich zwischen den beiden zu entscheiden. Im schlimmsten Fall erhält A 30 %, A’ ebenso 30 % und B weiterhin 40 %. Damit gewinnt B obwohl sich bei den Wählern nichts geändert hat - es ist nur ein Kandidat hinzugekommen.

Dieses Problem wird Spoilereffekt (englisch to spoil “verderben”) genannt. Obwohl sich viele dessen bewusst sind, wird es fast nie direkt benannt und als Problem erkannt.

Taktisches Wählen

So treibt die relative Mehrheitswahl die Wähler dazu entgegen ihren eigentlichen Willen zu stimmen. Sie stehen vor der Wahl ihre Stimme zu verschwenden oder das kleinere Übel zu unterstützen. So gewinnt nicht der beste Kandidat, sondern nur das kleinere Übel.

Auf Dauer verfestigt sich diese Strategie auch in der Parteienlandschaft. In den Ländern in denen die Relativwahl in fast allen Bereichen genutzt wird (UK und USA) bilden sich zwei Parteiensysteme heraus. Die Wähler haben so nur noch die Wahl zwischen zwei Parteien, welche sich im Amt abwechseln. Wahrer demokratischer Diskus ist so nicht mehr möglich.

Ergebnisse bilden nicht den Wählerwillen ab

Strategisches Wählen verzerrt aber auch das Gesamtergebnis. Es wirkt als hätten die beiden größten Parteien einen großen Vorsprung vor allen anderen. Weitere Parteien haben so keine Chance eine der großen abzulösen.

Dabei ist der Unterschied aber nur eine Folge des Wahlsystems. Könnten die Wähler ehrlich und ohne Nachteile ihre Meinung zu allen Kandidaten ausdrücken, würde vielleicht offensichtlich, dass zwischen den Parteien nur kleine Unterschiede bestehen und eine dritte Partei die zweite mir nur ein wenig mehr Stimmen überholen könnte.

Die Stichwahl löst das Problem nicht

In der Mehrheitswahl mit Stichwahl treten, sofern kein Kandidat eine Mehrheit der Stimmen hat, die zwei Kandidaten mit den meisten Stimmen in einer zweiten Runde gegeneinander an. Sie wurde konzipiert um das größte Problem - das ein Kandidat entgegen der Mehrheit gewinnt - zu lösen. Das klappt zum großen Teil, weswegen sie der relativen Wahl vorzuziehen und in vielen Bereichen der Standard ist. Der zusätzliche Aufwand führt aber dazu, dass sie sich nicht überall durchsetzten kann.

Das Problem, dass eine Minderheit gewinnt, wird aber nur abgemildert. Wenn zwei Kandidaten gegeneinander antreten die 19 % und 21 % erhalten haben, dann sind die restlichen 60 % der Wähler nicht in der Stichwahl vertreten. Dass am Ende ein Kandidat zwangsläufig über 50 % der abgegebenen Stimmen erhält, heißt daher nicht, dass dieser von der Mehrheit gewollt wird. Das Problem des kleineren Übels wird dabei nur in eine zweite Runde verschoben.

Die anderen aufgeführten Probleme übernimmt die Stichwahl aber vollständig. Es gibt weiterhin Spoilerkandidaten, die Wähler wählen taktisch und das Ergebnis ist wenig aussagekräftig.

Darüber hinaus ergeben sich neue taktische Probleme. Nehmen wir den Fall, dass zwei Kandidaten A und B in die Stichwahl kommen und A B schlagen wird. Wenn es einen Kandidaten C gibt, so sehr von allen gehasst, dass C sicher gegen A verlieren würde, dann haben die Wähler von A einen Anreiz zum Teil C zu wählen um B aus der Stichwahl zu treiben.
Auch wenn das eine riskante Strategie ist, die entweder ins leere laufen kann, oder genau das Gegenteil bewirkt, so gibt es doch Hinweise, dass das in einigen Fällen vorgekommen ist. Ein bekanntes Beispiel ist die Präsidentschaftswahl 2002 in Frankreich. Hier kamen der konservative Jacques Chirac der rechts-außen Kandidat Jean-Marie Le Pen in die Stichwahl. Der linke Lionel Jospin hat den Einzug in die Stichwahl knapp verpasst. Es liegt nahe, dass einige Unterstützer von Chirac in der ersten Runde für Le Pen gestimmt haben um Chirac einen einfachen Sieg zu garantieren.

Obwohl die Stichwahl eine Verbesserung zur relativen Mehrheitswahl darstellt, leidet sie also an den selben Strategien und Verzerrungen.

Lösung

Einige zucken bei den aufgeführten Problemen vielleicht mit den Schultern. Das war schon längst bekannt und so sei es nunmal in der Demokratie und es würde sich nie ändern.
Dabei ist die Lösung wunderbar einfach. Wir müssen lediglich die unsinnige Regel streichen, dass man nur für einen Kandidaten wählen darf.

Die Wahl bei der beliebig viele Kandidaten angekreuzt werden dürfen heißt Zustimmungswahl und löst alle genannten Probleme.

Referenzen

Lasier, Jean-François. 2011. “And the Loser Is... Plurality Voting.” https://hal.archives-ouvertes.fr/hal-00609810/document.